Interview mit Bernhard Bockelbrink

Im Interview mit Kugler Maag Cie spricht Bernhard Bockelbrink über Soziokratie und wie die weiterentwickelte Version, Sociocracy 3.0, spezifische Lösungen bei Herausforderungen bietet, wo Scrum und Skalierungs-Frameworks zu scheu sind, um Stellung zu beziehen.

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Hallo Bernhard, wer bist Du, was machst Du? Stellt Dich unseren Lesern bitte kurz vor.

Ich arbeite als Agile Coach und Berater und helfe Teams und Organisationen dabei, herauszufinden, wie sie Produkte und Dienstleistungen entwickeln können, die für ihre Kunden wertvoll sind, und dabei immer noch viel Spaß haben. Zusammen mit James Priest und Lili David entwickle ich Sociocracy 3.0. Ich lebe mit meiner Frau und drei Kindern in Berlin.

 

Dein Themenfokus liegt auf Soziokratie in Zusammenhang mit Agilität. Was ist Soziokratie und wie passt das Ganze mit Agilität zusammen?

Die Soziokratie – auch bekannt als „Soziokratische Kreismethode“ – ist eine partizipative Governance-Methode, die in den Niederlanden seit den 1970er Jahren entwickelt wurde. Im Zentrum steht eine kollaborative Entscheidungsfindungsmethode, und drum herum liegen Strukturen, die effektive Governance-Prozesse ermöglichen und die Gleichwertigkeit aller Mitglieder der Organisation gewährleisten sollen.

Die Soziokratie betrachtet Governance als ein komplexes Problem und fördert einen iterativen und kollaborativen Ansatz bei der Entscheidungsfindung. Es ist eine ähnliche Art von empirischem und hypothesengetriebenem Ansatz wie die agilen Methoden, die für Produkte, Arbeitsprozesse oder Geschäftsmodelle Anwendung finden.

Agilität hingegen hat lange die wirklich interessanten Fragen vermieden: Wie kann man eine Organisation agil führen? Die meisten Organisationen setzen lediglich eine traditionelle Hierarchie auf ein paar Scrum-Teams auf, aber ist das wirklich sinnvoll? Es handelt sich nämlich um zwei gegensätzliche Denkweisen. Soziokratie bringt viele Ideen mit sich, die mit einer agilen Denkweise in Einklang stehen und so haben James Priest und ich von 5 Jahren Sociocracy 3.0 entwickelt, damit Unternehmen mit diesen Ideen experimentieren können.

Zur Person

Bernhard Bockelbrink ist ein agiler Coach und Berater, der Teams und Organisationen dabei unterstützt, herauszufinden, wie sie Produkte und Dienstleistungen entwickeln können, die für ihre Kunden wertvoll sind, und dabei noch viel Spaß haben. Zusammen mit James Priest und Lili David entwickelt er Sociocracy 3.0.

Sergej Weber von Kugler Maag Cie interviewt Referenten der Agile Automotive Conference.

Wo liegen die Unterschiede zwischen der klassischen Soziokratie und dem neueren Sociocracy 3.0-Ansatz?

Wie Scrum oder Holokratie ist auch die klassische Soziokratie eine spezifische Methode, der eine Organisation folgen muss. Zwar hat sie ihre Berechtigung, aber die Implementierung einer starren Methode erfordert einen ziemlichen Vertrauensvorschuss für eine Organisation, zu dem viele nicht bereit sind. Und das ist auch sehr nachvollziehbar. Wenn Sie das Risiko für Ihr Unternehmen minimieren möchten, sollten Sie radikale Veränderungen so weit wie möglich vermeiden und stattdessen eine kontinuierliche Weiterentwicklung fördern.

Aus unserer Sicht sind Soziokratie und Agilität Denkweisen und keine Methoden. Aus diesem Grund haben wir Sociocracy 3.0 – oder „S3“, wie wir es nennen – entwickelt, um Organisationen dabei zu unterstützen, diese Denkweise in ihrem eigenen Tempo zu entdecken und zu entwickeln. Natürlich gibt es keinen einheitlichen Ansatz, daher bietet S3 viele Freiheitsgrade für Unternehmen und viel Raum zum Experimentieren.

Im Grunde ist es ein sehr einfaches Konzept: Wenn eine Organisation soziokratischer und agiler werden möchte, bietet jede interne oder externe Herausforderung die Möglichkeit, Ideen auszuprobieren, die andere agile und / oder soziokratische Organisationen bereits schon genutzt haben, um ähnliche Herausforderungen zu bewältigen. Wir bezeichnen diese Ideen oder Lösungen als „Muster“, und S3 liefert ungefähr 70 davon. Jedes dieser Muster kann einzeln implementiert werden und die meisten können innerhalb eines einzelnen Teams oder sogar von einer Einzelperson ausprobiert werden. Wir ermutigen die Menschen sogar, diese Muster zu ändern und an ihren Kontext anzupassen, schließlich wissen sie am besten, was für sie funktioniert. Durch diese Offenheit wollen wir Reibung und Widerstand reduzieren und den Aufwand minimieren.

Die Muster in S3 befassen sich allesamt mit verschiedenen Aspekten der Zusammenarbeit, von der Entscheidungsfindung über die Organisation der Arbeit bis hin zur Organisationsstruktur. Sie stützen sich auf die kollektive Weisheit der agilen, schlanken und soziokratischen Gemeinschaft. Alles was wir tun, ist, all diese großartigen Ideen dort draußen zu nehmen, die kleinsten Muster zu identifizieren, die einem Unternehmen noch Wert bringen können, und sie zu einem kohärenten und einigermaßen vollständigen Framework zusammenzufügen.

 

Wie groß ist die Durchdringung des Themas Soziokratie hier in Deutschland? Gibt es Industrien oder Bereiche, wo das Thema besonders guckt andockt?

Bevor wir 2015 die erste Version von S3 herausbrachten, hatte ich von einigen Beratungsunternehmen gehört, die mit Soziokratie arbeiten, auch von einigen Gemeinden, Freiwilligenorganisationen und gemeinnützigen Organisationen.

Traditionell wurde Soziokratie mit „sozialen“ Organisationen in Verbindung gebracht, z.B. in der Gesundheitsversorgung und Bildung. Soweit ich es beurteilen kann, hat sich das mit S3 erheblich geändert. Es gibt viele Technologieunternehmen, die mit S3 experimentieren. Sie arbeiten bereits mit u.a. Scrum, Kanban, XP und sind daher mit einigen unserer Muster für effektive Besprechungen, Arbeitsorganisation usw. vertraut.

Darüber hinaus bietet S3 spezifische Lösungen für Herausforderungen, bei denen Scrum und die Skalierungs-Frameworks zu scheu sind, um Stellung zu beziehen: partizipative Entscheidungsfindung, kollaborative Mitarbeiterentwicklung, Struktur jenseits von Hierarchien, um nur einige zu nennen. Diese Organisationen haben also erkannt, dass S3 für sie ein Weg ist, um die Agilität auf die nächste Ebene zu heben.

 

Partizipative Führung und Selbstorganisation scheinen immer stärker zum „neuen Arbeiten“ dazuzugehören. Inwieweit sind die heutigen Unternehmen auf diesen Paradigmenwechsel eingestellt und was muss passieren, damit das Thema Soziokratie hier mehr Anklang findet?

Was häufig als partizipative Führung bezeichnet wird, ist weniger ein Paradigmenwechsel als vielmehr ein Führungsstil, der im alten Paradigma verhaftet ist: Es gibt immer noch einen designierten Chef, der die Macht hat, auch die Macht zu entscheiden, wie viel die anderen mitmachen dürfen. Es ist ein bisschen wie bei diesen sogenannten „flachen Hierarchien“. Jeder ist per Du, aber wenn etwas schief läuft, ist es immer noch eine Hierarchie und der Chef kann – und wird – jedem sagen, was zu tun ist. Daher ist es für Unternehmen ziemlich einfach, zu behaupten, sie hätten einen partizipativen Führungsstil, weil sie gehört haben, dass dies ein Instrument der Mitarbeiterbindung ist.

Ich denke, der wahre Spaß beginnt, wenn man darüber hinausgeht, wenn die Führung von der Gruppe gewählt und von der Gruppe auch abberufen wird, wenn etwas schief geht. Oder wenn eine Organisation zu einer verteilten Führung übergeht und die Mitarbeiter in einer Situation, in der sie wissen, dass sie dazu in der Lage sind, die Führung übernehmen. Eine Organisation wie diese kann die kombinierten kognitiven Fähigkeiten aller ihrer Mitglieder wirksam einsetzen und ist gleichzeitig ein sehr interessanter und unterhaltsamer Ort.

Es mag zynisch klingen, aber was den Wandel in einigen Organisationen wirklich antreibt, ist, dass viele jetzt auf solch offensichtliche Weise versagen, dass sie nicht anders können, als zu bemerken, dass sie sich in einer existenziellen Krise befinden und nicht so weitermachen können. Sie fangen also an, über Dinge nachzudenken, die sie vor fünf oder zwei Jahren noch nicht in Betracht gezogen hätten. Es gibt mehr Offenheit für Experimente, auch in großen Unternehmen. Natürlich gibt es viel Trägheit und viele Machtkämpfe auf dem Weg, aber es passiert etwas. Immerhin reden wir jetzt über Agilität in der Automobilindustrie und zumindest hören einige Leute zu. Vor ein paar Jahren hätte das niemand geglaubt.

Ich bin geneigt zu glauben, dass S3 bereits jetzt schon ziemlich beliebt ist. In den letzten fünf Jahren wurde es von vielen kleinen und mittleren Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und Gemeinden entdeckt und es gibt auch einige Unternehmen, die bereits mit S3 experimentieren, da es kostenlos ist und so einfach es auszuprobieren.

Wir beraten und coachen einige dieser Organisationen, aber ein viel größerer Teil davon spielt ganz alleine mit S3 rum und wir hören nur zufällig von ihnen. Wir versuchen diese Art von Wachstum zu unterstützen, indem wir alles über S3 unter einer Creative-Commons-Lizenz kostenlos machen und Dienste bereitstellen, die der Community helfen, unsere Materialien in ihre Sprachen zu übersetzen. Und noch viel mehr tolle Dinge sind auf dem Weg.

 

Danke für Das Interview! Letzte Frage: Worauf können sich die Konferenzteilnehmer der Agile Automotive 2019 bei Deiner Session jetzt schon freuen? 

Ich werde eine Einführung in S3 geben, damit jeder eine ungefähre Vorstellung davon hat, worum es geht. Von da an steuern die Teilnehmer die Richtung der Session. Sie können aus einer Reihe von kurzen Modulen auswählen, die verschiedene Aspekte von S3 beleuchten, z.B. Agile Entscheidungsfindung, Überwindung von Hierarchien, Organisationskultur, agile Strukturen, Software für lernende Organisationen, Strategien für agile Transformationen. Mein Ziel ist es zu demonstrieren, dass es sehr einfach ist, mit S3 loszulegen.